Die andere Seite des Reisens

 

“Ihr habt so ein Glück.” Ali, mein Couchsurfing Host, auf dessen Dachterrasse wir uns befinden, schaut gedankenverloren in den Himmel Isfahans. “Warum?” frage ich. “Na weil ihr wählen könnt. Welcher Religion ihr angehören wollt.” Ich schaue ebenfalls nach oben, wo hier und da ein vereinzelter Stern glitzert. Dabei erinnere ich mich daran, wie ich damals in der Mittagspause mal eben aufs Amt ging, um aus der Kirche auszutreten. Viele Gedanken habe ich mir darüber nicht gemacht. Würde Ali sich öffentlich zu einer anderen Religion als dem Islam bekennen, würde ihm in seiner Heimat Iran die Todesstrafe drohen.

Wenn ich über meine Reisen rede, komme ich schnell ins Schwärmen. Die Landschaft so schön, die Menschen so lieb und das Essen sooo lecker. Doch wer reist wird nicht nur an die schönsten Orte der Welt geführt. Man wird auch damit konfrontiert, was auf dieser Welt eigentlich so alles schief läuft. Und wie unglaublich gut es das Schicksal mit uns gemeint hat, als unser Geburten-Glücksrad ausgerechnet in Europa angehalten hat.

Wo wir ohne Krieg und Unterdrückung leben können, garantiert ein Dach über dem Kopf haben, jederzeit Zugang zu ärztlicher Versorgung und wahrscheinlich dem höchsten Gut von allem, kostenloser Bildung.

Man muss nicht in ein Kriegsgebiet reisen, um die Auswirkungen von Krieg und Gewalt in vielen Ländern noch unmittelbar zu spüren. Mit teilweise schlimmen Auswirkungen für die Bevölkerung. Auf Laos wurden z.B. während des Vietnam-Kriegs sage und schreibe 270 Millionen Streubomben abgeworfen. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist Laos das am stärksten bombardierte Land der Welt. Bis heute liegen noch zahlreiche Minen im Boden, die Menschen, die auf dem Feld arbeiten, oder Kindern, die durch die Wälder toben, töten oder grausam verstümmeln.

Das Unexploded Ordenance Information Centre in Luang Prabang informiert über die schrecklichen Folgen der immer noch überall im Land liegenden Minen.

Südafrika leidet heute noch unter den Folgen der Apartheid. Wer einmal ein Township besucht hat kann nur schwer begreifen, wie man Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe in einem solchen Ausmaß diskriminieren und unter derart schlechten Bedingungen leben lassen kann. Die direkte Folge davon sind Gewalt und Aggression. Übergriffe, Raubüberfälle und sogar Mord an Passanten auf der Straße sind keine Seltenheit. In Johannesburg ist es zu keiner Tageszeit empfohlen, sich alleine auf der Straße zu bewegen. Die reiche weiße Minderheit versteckt sich hinter hohen Mauern und Stacheldraht. Eine einheimische Bekanntschaft darauf angesprochen, ob das kein konstant komisches Gefühl wäre, antwortet mir “Nein ganz und gar nicht, ist doch super! Denn so fühle ich mich sicher, wenn ich zu Hause in meinem Garten bin.”.

Township bei Kapstadt.

Welche Folgen Kriege haben, konnte ich auch in Pakistan spüren. Das Land leidet bis heute unter den Vorkommnissen von 9/11. Durch den dramatischen Einbruch des Tourismus haben Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage verloren. Vom Terror-Regime der Taliban, was als direkte Folge in einigen Regionen wie dem Swat Valley Angst und Schrecken verbreitete, ganz zu schweigen.

Neben der Tatsache, dass ich heute an den einen Gott, morgen an den anderen und übermorgen an gar keinen glauben kann, ohne dass sich jemand daran stört, war mir auch früher nie bewusst, was für einen komfortablen Stand als Frau ich in Deutschland habe.

Es gibt Länder, in denen Frauenrechte so gut wie nicht existent sind. In vielen Ländern sind arrangierte Ehen die Regel und Scheidung nahezu unmöglich. In Kirgistan sind Brautentführungen noch heute gängige Praxis. Eine Frau, die entführt wird und nicht in die Ehe einwilligt, beschädigt die Ehre beider Familien und wird unter Umständen verstoßen. Es gibt Frauen, die über diese ausweglose Lage so verzweifelt sind, dass sie sich umbringen.

Junge Mädchen in Pakistan studieren oft. Doch dann werden sie verheiratet und ihre Aufgabe ist von nun an, sich als Hausfrau um die Familie zu kümmern. Die wenigsten Frauen arbeiten, und wenn, nur in Berufen, in welchen das unumgänglich ist, z.B. als Ärztin. Überhaupt, habe ich Städte bereist, in denen ich keine einzige Frau auf der Straße gesehen habe. Das ist ein äußerst seltsames Gefühl. Die Männer darauf angesprochen warum ihre Frauen nicht mit ihnen gemeinsam unterwegs sind, heißt es schlicht, ihre Frauen hätten eben andere Interessen. Im Iran sind die Frauen stärker und unabhängiger, doch ihre Regierung zwingt sie unter Androhung drastischer Strafen, Kopftuch zu tragen.

Im Iran das Kopftuch abzunehmen kann eine Frau höchstens in der Einsamkeit der Wüste wagen.

Nicht nur Menschen erfahren auf der Welt Leid und Ausbeutung. Auch Tiere und die Natur sind betroffen. In Thailand werden Tiger betäubt und Elefanten brutal gebrochen, damit Touristen ihnen nahe kommen können. Alles für das perfekte Instagram Foto und immer noch machen viel zu viele fröhlich mit.

Als ich in Borneo im Dschungel stand wurde mir zum ersten Mal klar, was für ein unfassbares Verbrechen an unserem Planeten es ist, ein so unglaubliches Ökosystem einfach abzuholzen. Ohne Rücksicht auf Verluste, für billiges Palmöl oder was wir sonst gerade brauchen können.

In Mulu, einem kleinen Ort auf Borneo, haben sich die Menschen erfolgreich gegen den Bau von großen Hotelanlagen zur Wehr gesetzt. Die Natur holt sich hier ganz langsam wieder zurück, was ihr gehört.

In Nepal, wo uns die Natur mit den Bergen des Himalayas ein weiteres grandioses Geschenk gemacht hat, bekommt die Regierung keinen funktionierenden Müll-Transport auf die Reihe. Infolgedessen schmeißen die Menschen ihren Müll gerne einfach aus dem Fenster. Als ich mir von einem Aussichtspunkt in Pokhara aus den Sonnenaufgang über den Berggiganten des Himalaya anschaute, flogen mir die Plastik-Kaffeebecher wortwörtlich nur so um die Ohren, die man lieber die Böschung hinunter pfefferte als in einem Mülleimer zu entsorgen.

Ein weiterer Ort wo die Menschen ihren Müll einfach auf die Wiese schmeißen: am Mahodand Lake in Pakistan.

Es hört sich so klischeehaft an, aber Reisen erweitert den Horizont. Plötzlich weiß man zu schätzen, dass man ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen mit dem deutschen Pass in 179 Länder einreisen kann. Im Gegensatz zum iranischen, mit dem man als einziges Land auf der ganzen Welt nur in die Türkei einreisen darf. Dass wir Zugang zu kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung haben, die in vielen Ländern, wo die Menschen so viel ärmer sind als wir, nicht selbstverständlich ist.

Und dass wir frei sind. Dass wir im Rahmen unserer Gesetzgebung tun, lassen und sagen können was wir möchten. Als Frau verdiene ich hier in Deutschland zwar weniger als Männer, aber immerhin kommt keiner auf die Idee, mich an einen Cousin zwangszuverheiraten und meinen Platz fortan im Haus zu verorten.

Es ist schlicht falsch, dass jeder auf dieser Welt dieselben Chancen hat. Das Privileg spielt eine riesengroße Rolle. Diese Erkenntnis erhält man oft erst dann, wenn man mit eigenen Augen gesehen hat, in welcher Armut viele Menschen leben und welche Zwänge besonders Frauen von ihrer Gesellschaft oder Religion auferlegt bekommen. 

In Malaysia, einem eigentlich eher liberalen muslimischen Land, erzählt mir ein europäischer Restaurant-Besitzer von einer befreundeten Familie. Dem Ehemann wurde gedroht, dass er seinen Job verlieren würde, und die Kinder ihren Platz in der Schule, wenn seine Frau kein Kopftuch tragen würde. In den entlegenen Bergregionen Pakistans sind die Menschen bitterarm, und das Leben vor allem in den eisigen Temperaturen der langen Winter so hart, dass wir uns das kaum vorstellen können. 

Wer reist fängt zwangsläufig an sich Gedanken zu machen. Mich hat diese Seite des Reisens verändert. Materielle Dinge sind mir nicht mehr wichtig und wenn ein Kleidungsstück ein Loch hat, dann flicke ich es, statt es wie früher weg zu schmeißen. Zu Weihnachten und zum Geburtstag wünsche ich mir keine Geschenke mehr, sondern Spenden für ein kleines gemeinnütziges Projekt in Südafrika, von dem ich weiß, dass es bei Menschen ankommt, die das Geld viel dringender benötigen als ich. Ich versuche, mich vegan und palmöl-frei zu ernähren. Statt mir auf meinen Reisen teure Unterkünfte zu gönnen gebe ich meinen Guides, Kellnern oder Gästehaus-Besitzern gutes Trinkgeld oder versuche, meine einheimischen Freunde hier und da auf ein Essen einzuladen. Auch wenn paradoxerweise in den ärmsten Ländern die ich besucht habe, das kaum möglich ist, da hier die Gastfreundschaft am größten ist.

“Travel isn’t always pretty”, hat der großartige Anthony Bourdain gesagt. “It isn’t always comfortable. Sometimes it hurts, it even breaks your heart. But that’s okay. The journey changes you; it should change you. It leaves marks on your memory, on your consciousness, on your heart and on your body. You take something with you. Hopefully, you leave something good behind.”

Besser kann man es nicht ausdrücken.


Ich freue mich, wenn dir mein Artikel gefallen hat. Wenn du magst, folge mir auf:

Kommentar hinzufügen

Deine Email wird nie veröffentlicht oder geteilt. Pflichtfelder sind markiert *

Wer steckt hinter Sunsets & Summits?

Servus, ich bin Annika. Auf der Suche nach den traumhaftesten Sonnenuntergängen und Gipfeln mit den atemberaubendsten Aussichten reise ich durch die Welt. Besonders angetan haben es mir außergewöhnliche Länder. Über die Abenteuer, die ich in diesen als alleinreisende Frau erlebe, berichte ich euch hier. 

Über mich...

Folge mir auf

E-Mail Abonnement

Wenn du über neue Beiträge auf Sunsets & Summits benachrichtigt werden möchtest, dann trage dich hier für das e-mail Abo ein. 

Beliebte Artikel